Liebe Gäste,
hier kommt dann doch noch einmal Text… viel Text (!), denn das Deutsche Historische Museum in Berlin ruft noch bis zum 28. Mai zur Blogparade auf unter dem #DHMDemokratie
Viel Vergnügen, vielleicht Denkanstöße und wie immer der herzliche Aufruf, sich einzumischen, hier oder anderswo!
Nicht „die Demokratie“ ist in der Krise, sondern ihre Ausgestaltung
Blogparade: Was bedeutet mir die Demokratie? #DHMDemokratie
Ja, Demokratie geht uns alle an. Ginge!
Ich möchte mich schon im Vorhinein entschuldigen, dass jetzt kein weichgespülter Text kommt; frei nach Serdar Somuncu „Ihr merkt, ich bin ein bisschen aggro“. Ich bin sehr selten aggressiv, aber mir fällt Gelassenheit da zunehmend schwer, und vielleicht sind etwas forschere Worte ja sogar amüsanter zu lesen. Auf Reisen lasse ich mich gerne treiben, und so wird mein Beitrag eine ungeplante Tour zu den Stationen, die mich zum Thema bewegen.
Wichtig finde ich für eventuelle Leser als Zusatzinformation, dass ich keiner Partei angehöre, im Gegenteil der repräsentativen Parteiendemokratie zunehmend ablehnend gegenüberstehe. Als junge Frau glaubte ich an Wahlen, heute nehme ich daran teil, „damit’s nicht braun(er) wird“, und wie ich mich in Zukunft dazu verhalten werde, ist noch ungewiss. Das heißt… ich bin schon vom Konzept überzeugt: für die sprichwörtlichen oberen zehn Prozent der Bevölkerung. Je weiter man runterscrollt in dieser imaginären Skala, umso weniger herrscht Beteiligung. Zum einen bleiben diese Menschen, je abgehängter sie sind – und ich sage bewusst nicht „sich fühlen“ – Diskursen und Wahlen mehrheitlich fern, zum anderen wird das neoliberale Credo selten auch nur ansatzweise angetastet, egal, welche Koalitionen an der Macht sind. Der Kabarettist Volker Pispers monierte mal, dass er 30 Jahre lang dasselbe Programm machen konnte; es passte immer. Er konnte noch so oft mahnen, dass es für die Demokratie nicht gesund sein kann, wenn die InhaberInnen der Zeitungsmedien – es sind nicht so viele – mit der jeweiligen KanzlerIn „befreundet“ sind. Auf facebook kursiert derzeit ein kleines Plakat: „Kevin hat das Grundsatzprogramm der Sozen gelesen. Grosser Aufschrei. Wenn jetzt noch die CDU die Bibel findet…“ Witzig, wenn’s nicht so traurig wär‘…
Ich habe lange Zeit wie der Blogparaden-Kollege ‚mikelbower‘ gedacht: „… für mich ist Demokratie die Standardstaatsform und da gibt es nix zu rütteln oder zu fühlen dabei.“ Aber er schreibt auch weiter: „Wir sollten allerdings auch über Demokratie nachdenken! Der Mensch ist zwar vor dem Gesetz gleich, nicht aber im restlichen Leben, das nicht-demokratisch organisiert ist. Vor den Geldtöpfen werden wir immer ungleicher, vielleicht sollte die Demokratie mehr handeln, die Demokratie an sich untersuchen.“ Na, wenn das nicht rüttelt…
Mir ist sehr bewusst, dass es uns vergleichsweise gut geht, dass ich so kritisch reden und schreiben darf, aber mir ist auch bewusst, wie sehr selbst eine Fassadendemokratie am seidenen Faden hängt und wie schnell es kippen kann. Nur wird umgekehrt auch eine Staatsform, die als solche vom Volk als die beste Form anerkannt ist, selbst wenn es im Grunde keine direkte Beteiligung an den wichtigen Entscheidungen gibt und keine Repressalien bei nicht-Einhaltung des Bürgerwillens zu befürchten sind, sich besonders gut halten. Die Machthaber werden bestimmt nichts ändern wollen; warum sollten sie? Vielleicht braucht es ein neues Teil-Konzept: die Nichtwähler werden nicht nur prozentual erfasst, sondern auch dieses „Tortenstück“ spielt eine Rolle bei der Koalitionsbildung oder wegen geringer Beteiligung eben –nichtbildung; ich wette, es würde noch größer mit der Zeit…
Wir leben in einer Staats- und Gesellschaftsform, die der Wirtschaft huldigt und den Menschen abhängt, ausbremst oder (mindestens verbal) aussortiert, wenn die Konzernmacht angetastet werden soll. Selbst nachgewiesene Skandale, ob in Auto-, Lebensmittel- oder Überwachungsindustrie reichen nicht aus, sich eindeutig FÜR DEN MENSCHEN, den Bürger, zu positionieren und demnach zu handeln. Eindeutig zu handeln.
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Ich denke, dass ziemlich viel mit der Anleitung auf die Welt kommender Menschen steht und fällt. Kleinkinder kennen weder Rassismus noch andere Ressentiments. Besitzkonflikte haben sie, weil sie sich statt des noch nicht vorhandenen verbalen Ausdrucks über Objekte sozial verständigen, aber sie kennen und leben neben dem frühen Parallelspiel bereits instinkthaft Kooperation. (Ob die Grundanlage im Menschen eher zu Kooperation oder Egoismus tendiert, weiß ich nicht. Aber ich habe erfahren, dass diesbezügliche Anleitung eine große Rolle spielen kann.) Eine Grundvoraussetzung für gelungene Anleitung sind sicher Bezugspersonen, von denen man bestenfalls gewollt ist und die sich mindestens kümmern. Aber diese sind auch Kinder dieses Systems, die mehrheitlich die Angst weitergeben (oder mindestens die Befürchtung leben), dass man nur bestehen kann, indem man sich in das herrschende System möglichst nahtlos einfügt, also sich um das Versorgtsein sorgt, möglichst viel konsumiert und besser nicht alles hinterfragen lernt. Nachwachsende lernen Solidarität und das Gute, Günstige am Miteinander beim Heranwachsen oft nur als „Gutmenschentum“ kennen, das zu belächeln ist, weil diese „Gutmenschen“ „die Komplexität“ angeblich nicht verstünden.
Dieses Komplexe, von dem da die Rede ist, sind meist die bestehenden Machtstrukturen, deren Angeknackstwerden um jeden Preis verhindert werden soll.
Ich bin überzeugt, da ansetzen zu müssen: dass es nicht an der Grundversorgung scheitert, dass man – jenseits eines Berufs – alles werden kann, wofür man denkt, dass sich der Einsatz lohnt und es einen zu dieser oder diesen Aufgabe/n zieht. Dass man Heranwachsenden auch vorleben kann, ohne Existenzängste mitgestalten zu können, weil man diesen selbst nicht ausgesetzt ist. Wenn auf der Ebene, die jetzt gesellschaftlich als „unten“ erlebt wird, grundsätzliche Versorgungsgleichheit geschaffen würde, anstatt auszunutzen, dass der wenig Besitzende auf den noch weniger Besitzenden eindrischt, und wenn es ein dementsprechendes Renten-, ein menschliches Medizinversorgungs- und ein faires Steuersystem (Stichworte „Mindestrente“, die medizinische Versorgung derer ohne Geld und „Finanztransaktionssteuer“) gäbe – ich kann es mir nicht anders vorstellen, als dass das der gesellschaftlichen Entwicklung und jedem Einzelnen so gut täte, wie ihr und ihm lange nichts gut getan hat.
Die Frage ist: ist gewünscht, was finanzierbar ist? Was steht einer tatsächlich sozialen Gemeinschaft im Wege, was tatsächlicher Demokratie?
Wie kommen wir weg davon, dass wir diesbezüglich an unsere Regierungen glauben, bei denen nur die Gesichter wechseln, und wie können wir bei gesellschaftspolitisch relevanten Punkten eine Graswurzelbewegung initiieren? Ist die Umsetzung dieser Wünsche überhaupt als Graswurzelbewegung möglich?
Könnte man ideologiefrei lehren und ist das vielleicht eine der Kernfragen?
Kann man politische Hetze verhindern oder zumindest eindämmen, indem man sie immer mehr aufdecken darf – und zwar argumentativ und ohne „Fake News“-Totschlag?
Wie verdeutlicht man Heranwachsenden in Unterrichtseinheiten, die ganz oft von „Bulimie-Lernen“ geprägt sind, nachhaltig die immens große Rolle der Medien?
Wie erreicht man ein größeres Sprachbewusstsein?
Wie verhindert man, parteipolitisch zugeordnet oder vor den nächsten Machtkarren gespannt zu werden?
Wie stärkt man das am besten, jedem Machtgefüge – und daher zum Beispiel auch einer „eigenen“ Regierung – kritisch begegnen zu dürfen, ohne in die „Verschwörungstheorie“- oder irgendeine andere Ecke gedrängt zu werden?
Wie stärkt man freidenkende Lehrer und Professoren, die ja in unserem System von diesem bezahlt werden und daher niemals völlig frei sein können?
Wie bringt eine Gesellschaft mehr Menschen hervor, die freie Denker (und Fühler!) werden können und wollen, wenn diese wünschenswerten potentiellen Lehrer/Führer durch ihre eigene Erziehung und die der Eltern im sich-versorgen-Müssen und Kompensieren gleich Konsumieren feststecken?
Wie kann in einem solchen System der Teufelskreis durchbrochen werden?
Was zeigt mir, dass der mündige Bürger gewünscht ist?
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Ein „Bildungsverständnis zu Demokratie und Nachhaltigkeit“, wie es Blogparaden-Kollegin Susanne Brandt beschreibt und dabei Ute Stoltenberg zitiert:
„Ziel einer Bildung für eine nachhaltige Entwicklung ist nicht ein Wissenskanon, sondern eine Persönlichkeit, die sich ermutigt und fähig fühlt, das eigene Leben mitzugestalten, und die über Wissen und Kompetenzen verfügt, dies im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung zu tun“
ist nur zu erreichen, indem man unbequeme Meinungen und Personen nicht ausschließt. Nicht Daniele Ganser mundtot machen möchte, weil er zu 09/11 forscht und seine Ergebnisse mitteilt, nicht die Rainer Mausfeld’schen Erkenntnisse als Verschwörungstheorien brandmarken, sondern sich aufrichtig und ergebnisoffen auseinandersetzen. Reifere Schüler sollten nicht aus dem Kabarett erfahren müssen, was die Bertelsmann-Stiftung tut. Ich wünsche mir Lehrer, die dem hundertsten tagesschau-Bericht über die „Annexion der Krim“ am nächsten Morgen mit einem Gabriele Krone-Schmalz-Vortrag begegnen, in dem sie den Begriff „Sezession“ erklärt. Schüler sollten selbst denken lernen; man kann Menschen durchaus dazu anleiten und auf die Etikettierung anderer Menschen als „-theoretikerIn“, „-versteherIn“ etc. verzichten. Den perversen Werbeplakaten der Bundeswehr würde begegnet mit Eugen Drewermanns Rede in der Versöhnungskirche in Kaiserslautern im September 2017. Die menschlich wertvollen und durchaus wissenschaftlich untermauerten Erkenntnisse von Dagmar Neubronner und Gerald Hüther gehörten auch in den Institutionen besprochen, die sie kritisieren. Und bei Gelbwesten-Protesten, bei denen selbstverständlich über Ausschreitungen jeder Seite berichtet werden müsste, würde darauf geachtet, dass das mehr als nachvollziehbare Anliegen der Demonstranten nicht bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt und stattdessen wochenlang eine brennende Kirche gezeigt wird. Das rechne ich nicht gegeneinander auf; mir geht es darum, die Gewichtungen in der Öffentlichkeit zu zeigen, womit übrigens alles steht und fällt. Die Menschen setzen sich damit auseinander, was medial in den Fokus gerückt wird. Für viele ist nur Realität, was medial besprochen wird. Das ist den Medien, deren ChefInnen und FreundInnen bewusst, und das wiederum sollte uns bewusst sein.
Alle Informationen, die zu Positionierung und Entscheidung wichtig sind, auch tatsächlich zu erhalten (was nachweislich nicht der Fall ist; man bemüht sich „in Hauptsätzen“ zum Volk zu sprechen und achtet darauf, dass gewisse Inhalte nicht „verunsichern“; alles muss man sich als Bürger mühsam selbst zusammenklauben im „News“- und „Fake News“-Krieg), alles, auch die unbequemen Dinge in einer Gesellschaft anzusprechen und frei diskutieren zu können, das ist die Grundlage echter Demokratie, und eine solche gelebte Demokratie bedeutet mir beinahe alles.
Man hört viel die Debattenkultur beklagt, aber was wird medial vermittelt? Dass diese „Kultur“ die Norm ist. Dass man sich im Bundestag nicht zuhört, im Plenarsaal spazieren geht, sich mit dem Handy beschäftigt – die Norm. Schüler sollen sich das ansehen und sitzen mehr oder weniger aufmerksam in den Rängen – um was vermittelt zu bekommen? Ich verstehe mehr und mehr die Unaufmerksamen… In Talkshows geht es ums Gewinnen im Gespräch, nicht um ehrlichen Austausch. Diesbezügliche Whistleblower erzählen später, dass vorherige Absprachen die Norm und nicht die Ausnahme sind. Und wenn so etwas zur Sprache kommt, geht es wieder nur darum, wer sich durchsetzt in der Meinungsmache, dass der Whistleblower ausreichend lächerlich gemacht wird; die Debattenkultur ist wieder nicht grundsätzlich Thema; wieder eine Chance für gemeinsame Weiterentwicklung vertan. Die Gefährlichkeit, die im Populismus liegt, ist nicht die Volksnähe, sondern das Auskommen mit Schlagworten, die Inhaltsleere. Alles verkommt zur Show.
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Den Rahmen wieder größer ziehen, respektvoll, jeder mit seinen Mitteln und an seinem Platz, das ist unsere eigentliche aktuelle Aufgabe, und mit allem, was ich angesprochen und mit allem, was ich nicht erwähnt habe ist das ein beinahe nicht zu bewältigender Berg. Denn ich denke und fürchte, dass genügend Kräfte am Werk sind, die genau das nicht wünschen. Die sich Demokraten und Demokratinnen nennen, keinen diesbezüglichen Festakt aus- und uns lieber in der geführten Position lassen, in der Hoffnung, dass sich die Meisten doch eh nicht einbringen wollen.
Aber ich habe vor einiger Zeit ganz klein und bei mir damit angefangen und hoffe, dass ich das mit ganzer Bewusstheit weiter tun kann und nicht einknicke, selbst wenn irgendwann vielleicht einmal mehr als nur Zivilcourage gefordert ist.
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Eine junge Frau auf dem Weg in die Oberstufe erzählte mir, dass sie für die Schülervertretung kandidieren werde, weil die bisherige „nichts mache“. Auf meine Frage, warum denn nicht, sagte sie, „weil diese die Lehrer überzeugen müsste und die dann, je nachdem, worum es geht, die Direktion überzeugen müssten…“ Was tun die älteren Generationen den jüngeren an, wenn sie ihre Demotivation vererben?
Mein Post Scriptum richtet sich an die jungen Menschen: lasst Euch nicht unterkriegen, bleibt wach und straft diejenigen Lügen, die Euch Blau- oder Show-Mache vorwerfen, zum Beispiel wenn Ihr freitags auf die Straße geht. Und die Euch mit Whataboutism kommen, weil Eure jüngeren Geschwister mit dem Auto gebracht werden. Vielleicht lernen die Eltern ja von Euch und die Busse platzen demnächst noch mehr aus den Nähten, so dass endlich konsequent in den öffentlichen Nahverkehr investiert wird.
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http://www.dhm.de/blog/2019/04/30/blogparade-was-bedeutet-mir-die-demokratie-dhmdemokratie/