Nicht „die Demokratie“ ist in der Krise, sondern ihre Ausgestaltung – Blogparade des Deutschen Historischen Museums

Liebe Gäste,

hier kommt dann doch noch einmal Text… viel Text (!), denn das Deutsche Historische Museum in Berlin ruft noch bis zum 28. Mai zur Blogparade auf unter dem #DHMDemokratie

Viel Vergnügen, vielleicht Denkanstöße und wie immer der herzliche Aufruf, sich einzumischen, hier oder anderswo!

 

Nicht „die Demokratie“ ist in der Krise, sondern ihre Ausgestaltung

 

Blogparade: Was bedeutet mir die Demokratie? #DHMDemokratie

 

Ja, Demokratie geht uns alle an. Ginge!

Ich möchte mich schon im Vorhinein entschuldigen, dass jetzt kein weichgespülter Text kommt; frei nach Serdar Somuncu „Ihr merkt, ich bin ein bisschen aggro“. Ich bin sehr selten aggressiv, aber mir fällt Gelassenheit da zunehmend schwer, und vielleicht sind etwas forschere Worte ja sogar amüsanter zu lesen. Auf Reisen lasse ich mich gerne treiben, und so wird mein Beitrag eine ungeplante Tour zu den Stationen, die mich zum Thema bewegen.

Wichtig finde ich für eventuelle Leser als Zusatzinformation, dass ich keiner Partei angehöre, im Gegenteil der repräsentativen Parteiendemokratie zunehmend ablehnend gegenüberstehe. Als junge Frau glaubte ich an Wahlen, heute nehme ich daran teil, „damit’s nicht braun(er) wird“, und wie ich mich in Zukunft dazu verhalten werde, ist noch ungewiss. Das heißt… ich bin schon vom Konzept überzeugt: für die sprichwörtlichen oberen zehn Prozent der Bevölkerung. Je weiter man runterscrollt in dieser imaginären Skala, umso weniger herrscht Beteiligung. Zum einen bleiben diese Menschen, je abgehängter sie sind – und ich sage bewusst nicht „sich fühlen“ – Diskursen und Wahlen mehrheitlich fern, zum anderen wird das neoliberale Credo selten auch nur ansatzweise angetastet, egal, welche Koalitionen an der Macht sind. Der Kabarettist Volker Pispers monierte mal, dass er 30 Jahre lang dasselbe Programm machen konnte; es passte immer. Er konnte noch so oft mahnen, dass es für die Demokratie nicht gesund sein kann, wenn die InhaberInnen der Zeitungsmedien – es sind nicht so viele – mit der jeweiligen KanzlerIn „befreundet“ sind. Auf facebook kursiert derzeit ein kleines Plakat: „Kevin hat das Grundsatzprogramm der Sozen gelesen. Grosser Aufschrei. Wenn jetzt noch die CDU die Bibel findet…“ Witzig, wenn’s nicht so traurig wär‘…

Ich habe lange Zeit wie der Blogparaden-Kollege ‚mikelbower‘ gedacht: „… für mich ist Demokratie die Standardstaatsform und da gibt es nix zu rütteln oder zu fühlen dabei.“ Aber er schreibt auch weiter: „Wir sollten allerdings auch über Demokratie nachdenken! Der Mensch ist zwar vor dem Gesetz gleich, nicht aber im restlichen Leben, das nicht-demokratisch organisiert ist. Vor den Geldtöpfen werden wir immer ungleicher, vielleicht sollte die Demokratie mehr handeln, die Demokratie an sich untersuchen.“ Na, wenn das nicht rüttelt…

Mir ist sehr bewusst, dass es uns vergleichsweise gut geht, dass ich so kritisch reden und schreiben darf, aber mir ist auch bewusst, wie sehr selbst eine Fassadendemokratie am seidenen Faden hängt und wie schnell es kippen kann. Nur wird umgekehrt auch eine Staatsform, die als solche vom Volk als die beste Form anerkannt ist, selbst wenn es im Grunde keine direkte Beteiligung an den wichtigen Entscheidungen gibt und keine Repressalien bei nicht-Einhaltung des Bürgerwillens zu befürchten sind, sich besonders gut halten. Die Machthaber werden bestimmt nichts ändern wollen; warum sollten sie? Vielleicht braucht es ein neues Teil-Konzept: die Nichtwähler werden nicht nur prozentual erfasst, sondern auch dieses „Tortenstück“ spielt eine Rolle bei der Koalitionsbildung oder wegen geringer Beteiligung eben –nichtbildung; ich wette, es würde noch größer mit der Zeit…

Wir leben in einer Staats- und Gesellschaftsform, die der Wirtschaft huldigt und den Menschen abhängt, ausbremst oder (mindestens verbal) aussortiert, wenn die Konzernmacht angetastet werden soll. Selbst nachgewiesene Skandale, ob in Auto-, Lebensmittel- oder Überwachungsindustrie reichen nicht aus, sich eindeutig FÜR DEN MENSCHEN, den Bürger, zu positionieren und demnach zu handeln. Eindeutig zu handeln.

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Ich denke, dass ziemlich viel mit der Anleitung auf die Welt kommender Menschen steht und fällt. Kleinkinder kennen weder Rassismus noch andere Ressentiments. Besitzkonflikte haben sie, weil sie sich statt des noch nicht vorhandenen verbalen Ausdrucks über Objekte sozial verständigen, aber sie kennen und leben neben dem frühen Parallelspiel bereits instinkthaft Kooperation. (Ob die Grundanlage im Menschen eher zu Kooperation oder Egoismus tendiert, weiß ich nicht. Aber ich habe erfahren, dass diesbezügliche Anleitung eine große Rolle spielen kann.) Eine Grundvoraussetzung für gelungene Anleitung sind sicher Bezugspersonen, von denen man bestenfalls gewollt ist und die sich mindestens kümmern. Aber diese sind auch Kinder dieses Systems, die mehrheitlich die Angst weitergeben (oder mindestens die Befürchtung leben), dass man nur bestehen kann, indem man sich in das herrschende System möglichst nahtlos einfügt, also sich um das Versorgtsein sorgt, möglichst viel konsumiert und besser nicht alles hinterfragen lernt. Nachwachsende lernen Solidarität und das Gute, Günstige am Miteinander beim Heranwachsen oft nur als „Gutmenschentum“ kennen, das zu belächeln ist, weil diese „Gutmenschen“ „die Komplexität“ angeblich nicht verstünden.

Dieses Komplexe, von dem da die Rede ist, sind meist die bestehenden Machtstrukturen, deren Angeknackstwerden um jeden Preis verhindert werden soll.

Ich bin überzeugt, da ansetzen zu müssen: dass es nicht an der Grundversorgung scheitert, dass man – jenseits eines Berufs – alles werden kann, wofür man denkt, dass sich der Einsatz lohnt und es einen zu dieser oder diesen Aufgabe/n zieht. Dass man Heranwachsenden auch vorleben kann, ohne Existenzängste mitgestalten zu können, weil man diesen selbst nicht ausgesetzt ist. Wenn auf der Ebene, die jetzt gesellschaftlich als „unten“ erlebt wird, grundsätzliche Versorgungsgleichheit geschaffen würde, anstatt auszunutzen, dass der wenig Besitzende auf den noch weniger Besitzenden eindrischt, und wenn es ein dementsprechendes Renten-, ein menschliches Medizinversorgungs- und ein faires Steuersystem (Stichworte „Mindestrente“, die medizinische Versorgung derer ohne Geld und „Finanztransaktionssteuer“) gäbe – ich kann es mir nicht anders vorstellen, als dass das der gesellschaftlichen Entwicklung und jedem Einzelnen so gut täte, wie ihr und ihm lange nichts gut getan hat.

Die Frage ist: ist gewünscht, was finanzierbar ist? Was steht einer tatsächlich sozialen Gemeinschaft im Wege, was tatsächlicher Demokratie?

Wie kommen wir weg davon, dass wir diesbezüglich an unsere Regierungen glauben, bei denen nur die Gesichter wechseln, und wie können wir bei gesellschaftspolitisch relevanten Punkten eine Graswurzelbewegung initiieren? Ist die Umsetzung dieser Wünsche überhaupt als Graswurzelbewegung möglich?

Könnte man ideologiefrei lehren und ist das vielleicht eine der Kernfragen?

Kann man politische Hetze verhindern oder zumindest eindämmen, indem man sie immer mehr aufdecken darf – und zwar argumentativ und ohne „Fake News“-Totschlag?

Wie verdeutlicht man Heranwachsenden in Unterrichtseinheiten, die ganz oft von „Bulimie-Lernen“ geprägt sind, nachhaltig die immens große Rolle der Medien?

Wie erreicht man ein größeres Sprachbewusstsein?

Wie verhindert man, parteipolitisch zugeordnet oder vor den nächsten Machtkarren gespannt zu werden?

Wie stärkt man das am besten, jedem Machtgefüge – und daher zum Beispiel auch einer „eigenen“ Regierung – kritisch begegnen zu dürfen, ohne in die „Verschwörungstheorie“- oder irgendeine andere Ecke gedrängt zu werden?

Wie stärkt man freidenkende Lehrer und Professoren, die ja in unserem System von diesem bezahlt werden und daher niemals völlig frei sein können?

Wie bringt eine Gesellschaft mehr Menschen hervor, die freie Denker (und Fühler!) werden können und wollen, wenn diese wünschenswerten potentiellen Lehrer/Führer durch ihre eigene Erziehung und die der Eltern im sich-versorgen-Müssen und Kompensieren gleich Konsumieren feststecken?

Wie kann in einem solchen System der Teufelskreis durchbrochen werden?

Was zeigt mir, dass der mündige Bürger gewünscht ist?

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Ein „Bildungsverständnis zu Demokratie und Nachhaltigkeit“, wie es Blogparaden-Kollegin Susanne Brandt beschreibt und dabei Ute Stoltenberg zitiert:

„Ziel einer Bildung für eine nachhaltige Entwicklung ist nicht ein Wissenskanon, sondern eine Persönlichkeit, die sich ermutigt und fähig fühlt, das eigene Leben mitzugestalten, und die über Wissen und Kompetenzen verfügt, dies im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung zu tun“

ist nur zu erreichen, indem man unbequeme Meinungen und Personen nicht ausschließt. Nicht Daniele Ganser mundtot machen möchte, weil er zu 09/11 forscht und seine Ergebnisse mitteilt, nicht die Rainer Mausfeld’schen Erkenntnisse als Verschwörungstheorien brandmarken, sondern sich aufrichtig und ergebnisoffen auseinandersetzen. Reifere Schüler sollten nicht aus dem Kabarett erfahren müssen, was die Bertelsmann-Stiftung tut. Ich wünsche mir Lehrer, die dem hundertsten tagesschau-Bericht über die „Annexion der Krim“ am nächsten Morgen mit einem Gabriele Krone-Schmalz-Vortrag begegnen, in dem sie den Begriff „Sezession“ erklärt. Schüler sollten selbst denken lernen; man kann Menschen durchaus dazu anleiten und auf die Etikettierung anderer Menschen als „-theoretikerIn“, „-versteherIn“ etc. verzichten. Den perversen Werbeplakaten der Bundeswehr würde begegnet mit Eugen Drewermanns Rede in der Versöhnungskirche in Kaiserslautern im September 2017. Die menschlich wertvollen und durchaus wissenschaftlich untermauerten Erkenntnisse von Dagmar Neubronner und Gerald Hüther gehörten auch in den Institutionen besprochen, die sie kritisieren. Und bei Gelbwesten-Protesten, bei denen selbstverständlich über Ausschreitungen jeder Seite berichtet werden müsste, würde darauf geachtet, dass das mehr als nachvollziehbare Anliegen der Demonstranten nicht bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt und stattdessen wochenlang eine brennende Kirche gezeigt wird. Das rechne ich nicht gegeneinander auf; mir geht es darum, die Gewichtungen in der Öffentlichkeit zu zeigen, womit übrigens alles steht und fällt. Die Menschen setzen sich damit auseinander, was medial in den Fokus gerückt wird. Für viele ist nur Realität, was medial besprochen wird. Das ist den Medien, deren ChefInnen und FreundInnen bewusst, und das wiederum sollte uns bewusst sein.

Alle Informationen, die zu Positionierung und Entscheidung wichtig sind, auch tatsächlich zu erhalten (was nachweislich nicht der Fall ist; man bemüht sich „in Hauptsätzen“ zum Volk zu sprechen und achtet darauf, dass gewisse Inhalte nicht „verunsichern“; alles muss man sich als Bürger mühsam selbst zusammenklauben im „News“- und „Fake News“-Krieg), alles, auch die unbequemen Dinge in einer Gesellschaft anzusprechen und frei diskutieren zu können, das ist die Grundlage echter Demokratie, und eine solche gelebte Demokratie bedeutet mir beinahe alles.

Man hört viel die Debattenkultur beklagt, aber was wird medial vermittelt? Dass diese „Kultur“ die Norm ist. Dass man sich im Bundestag nicht zuhört, im Plenarsaal spazieren geht, sich mit dem Handy beschäftigt – die Norm. Schüler sollen sich das ansehen und sitzen mehr oder weniger aufmerksam in den Rängen – um was vermittelt zu bekommen? Ich verstehe mehr und mehr die Unaufmerksamen… In Talkshows geht es ums Gewinnen im Gespräch, nicht um ehrlichen Austausch. Diesbezügliche Whistleblower erzählen später, dass vorherige Absprachen die Norm und nicht die Ausnahme sind. Und wenn so etwas zur Sprache kommt, geht es wieder nur darum, wer sich durchsetzt in der Meinungsmache, dass der Whistleblower ausreichend lächerlich gemacht wird; die Debattenkultur ist wieder nicht grundsätzlich Thema; wieder eine Chance für gemeinsame Weiterentwicklung vertan. Die Gefährlichkeit, die im Populismus liegt, ist nicht die Volksnähe, sondern das Auskommen mit Schlagworten, die Inhaltsleere. Alles verkommt zur Show.

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Den Rahmen wieder größer ziehen, respektvoll, jeder mit seinen Mitteln und an seinem Platz, das ist unsere eigentliche aktuelle Aufgabe, und mit allem, was ich angesprochen und mit allem, was ich nicht erwähnt habe ist das ein beinahe nicht zu bewältigender Berg. Denn ich denke und fürchte, dass genügend Kräfte am Werk sind, die genau das nicht wünschen. Die sich Demokraten und Demokratinnen nennen, keinen diesbezüglichen Festakt aus- und uns lieber in der geführten Position lassen, in der Hoffnung, dass sich die Meisten doch eh nicht einbringen wollen.

Aber ich habe vor einiger Zeit ganz klein und bei mir damit angefangen und hoffe, dass ich das mit ganzer Bewusstheit weiter tun kann und nicht einknicke, selbst wenn irgendwann vielleicht einmal mehr als nur Zivilcourage gefordert ist.

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Eine junge Frau auf dem Weg in die Oberstufe erzählte mir, dass sie für die Schülervertretung kandidieren werde, weil die bisherige „nichts mache“. Auf meine Frage, warum denn nicht, sagte sie, „weil diese die Lehrer überzeugen müsste und die dann, je nachdem, worum es geht, die Direktion überzeugen müssten…“ Was tun die älteren Generationen den jüngeren an, wenn sie ihre Demotivation vererben?

Mein Post Scriptum richtet sich an die jungen Menschen: lasst Euch nicht unterkriegen, bleibt wach und straft diejenigen Lügen, die Euch Blau- oder Show-Mache vorwerfen, zum Beispiel wenn Ihr freitags auf die Straße geht. Und die Euch mit Whataboutism kommen, weil Eure jüngeren Geschwister mit dem Auto gebracht werden. Vielleicht lernen die Eltern ja von Euch und die Busse platzen demnächst noch mehr aus den Nähten, so dass endlich konsequent in den öffentlichen Nahverkehr investiert wird.

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http://www.dhm.de/blog/2019/04/30/blogparade-was-bedeutet-mir-die-demokratie-dhmdemokratie/

 

Standard

Idee – Ideal – Idealismus – Ideologie

Ich bin einmal mehr in einem inneren Konflikt.

Den Begriff der Co-Kreativität kenne ich nun schon einige Zeit; den zugehörigen Inhalt kannte ich gefühlt schon immer. Ohne Konkurrenz- und Dominanzgedanken und zugehöriges Gehabe zusammenwerfen, was jedeR einbringen kann, um sowohl für das Individuum, eine Gruppe oder Sache das bestmögliche Ergebnis im Sinne positiver Entwicklung zu erreichen – das hat mich schon immer begeistert. Ich habe es auch immer gelebt; für mich selbst (was schwierig ist; dazu gleich mehr) oder in kleinen Gruppen, die für eine Weile zusammengearbeitet haben, beispielsweise wenn eine Ausstellung organisiert werden sollte. Im Brotjob arbeite ich hierarchisch und komme damit auch irgendwie zurecht, präferiere aber in jedem Fall das partnerschaftliche Arbeiten auf einer Augenhöhe, die nicht nur Worthülse ist.

Es ist ja immer so, dass, wenn man sich mit einer Sache auseinandersetzt, sie einem auch andauernd begegnet: auf einmal scheint der Begriff überall aufzutauchen; googelt man ihn, stellt man fest, dass die Erforschung kreativer Gruppen und ihrer Prozesse nicht neu ist, dass ihr Einsatz nur zum Beispiel in früheren Firmenkulturen nicht bekannt oder nicht gewollt war. Aber dass ein gemeinsames „Brainstorming“ einer Sache und ihrer Erarbeiter gut tut, hat sich inzwischen herumgesprochen, und was ist das anderes als Co-Kreativität?

Es ist schwierig, damit alleine zu stehen. Zwar kann ich mich aus Konkurrenzsituationen heraushalten so gut es geht, immer wieder für die Idee Werbung machen, dass alle von einer Sache Betroffene sich einbringen dürfen und sollten, um das beste Ergebnis zu erzielen. Aber selbstverständlich wünsche ich mir, jeden Menschen und jede Gruppe um mich herum mit dieser Idee, mit diesem meinem Leitgedanken anzustecken…

Wenn mich diese Idee begeistert, und ich hätte gern, dass alle, die co-kreativ leben und arbeiten wollen, das auch können, und ich mich dafür stark mache, dann hänge ich erst einmal nur einer, dieser, Idee an und setze mich für sie ein. Wenn ich sehe, dass Menschen, die in diesem Sinne frei auf-wachsen dürfen, eher Menschen werden, die eine Gemeinschaft sozial stärken, zu-frieden leben (die Bindestriche sind bewusst gesetzt), und ich das äußere wo ich kann – verbreite ich dann eine Idee oder schon eine Ideologie? Denn selbstverständlich wünsche ich mir, eben weil ich den gesamtgesellschaftlichen Erfolg sehe, dass immer mehr (alle?) Menschen in diesen Genuss kämen…

Zwingen würde ich sicher keine einzelne Person, aber ich spüre schon den Impuls, sie zum Ausprobieren – ja, doch – zwingen zu wollen…

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Zur Wertschätzung seiner Mitmenschen lässt sich niemand zwingen, auch nicht dazu, Wertschätzung einmal „auszuprobieren“. Sie ist nicht angeboren; man wird zu ihr angehalten und trainiert sie, schärft immer mehr den Blick für ihr Vorhandensein oder Fehlen. Einer, dem sie ein Anliegen ist, ist Gerald Hüther. Er hat 2016 die Akademie für Potentialentfaltung initiiert und steht ihr vor. Da ich ihm seit alphabet, der 2013 erschienen Dokumentation des Österreichers Erwin Wagenhofer, im Netz folge, habe ich einmal sein Interview mit Götz Wittneben zu Co-Kreativität gefunden (ich berichtete bereits und habe es mehrmals verlinkt, so wieder im letzten Blog-Beitrag) und andererseits das nicht weniger interessante Gespräch mit Jeannine Mik, das ich heute in den Links anbiete. Am Ende des Gesprächs wird die ‚Würdekompass‘-Initiative beworben, die zum Inhalt hat, dass sich Menschen in ihren Heimatgemeinden finden und gemeinsam einsetzen können, etwas in Richtung diesbezüglicher Zustandsverbesserung zu bewegen.

Was mache ich mit meiner Begeisterung und dem gleichzeitigen Vorsatz, aus schlechten Erfahrungen heraus nie wieder einer egal wie gearteten Vereinigung beizutreten? Nie wieder werde ich einer religiösen Vereinigung angehören, keiner Partei, keinem Sport- und nicht mal einem Schreib- oder Malverein. Wann immer ich Gemeinschaft gesucht habe, habe ich neben dem Positiven immer so viel Ärgernisse erlebt oder mich mit dem Umsetzen der Leitlinie nicht mehr identifiziert, dass es mich die Sache hat verlassen lassen (außer beim Tanzen, wo mein Weggang aus dem Verein einen anderen Grund hatte; obwohl es niemand von diesen lesen wird: liebe Grüße an Regina und die damaligen Mittänzer – es hat immer Spaß gemacht!).

Auf der Website ist unter „Würdekompass-Gruppen“ zu lesen:

„Die Treffen der Würdekompass-Gruppen finden in einer Kultur der Begegnung und des konstruktiven Miteinanders statt. Statt fertige Lösungen zu suchen, stellen die Mitglieder einander Fragen: Was zeichnet einen Menschen aus? Wie erleben wir unsere Subjekthaftigkeit in uns selbst und in unseren Beziehungen zu anderen? Sind wir uns darüber bewusst, was wir mit unserer Lebenszeit anfangen, oder auch wie häufig wir uns von anderen für die Realisierung von deren Absichten benutzen lassen? Was können wir tun, um unsere eigene Würde und die anderer Menschen, oder generell auch die anderer Lebewesen zu bewahren? – Eine erste Version unseres Verhaltenskodexes können Sie hier herunterladen.“

Nicht nur, dass es mich beim Wort „Verhaltenskodex“ gruselt…neben dem Gefühl des eingeladen- und aufgefordert-Seins – motiviert bin ich ja schon – stellt sich noch ein anderes Gefühl ein: wie stellte man sicher, dass jeder Teilnehmer, jede Teilnehmerin dasselbe unter den Begriffen versteht, dasselbe Ziel hat? Selbst bei ein und demselben Verhaltenskodex, dem sich alle freiwillig unterwerfen: wie verhinderte man, dass trotz aller Vorsätze das passiert, was „explizit ausgeschlossen“ sein soll:

„andere als Objekte eigener Interessen oder Bewertungen zu behandeln und ihre persönlichen Absichten über diejenigen der Gruppe zu stellen;

die Würdekompass- und Themengruppen als Sprungbrett für eigenes Business oder eigene Angebote zu benutzen;

durch Expertentum und Dominanz anderen den Raum zu nehmen, sich mit eigenen Ideen einzubringen“?

Ich möchte da bestimmt nichts schlecht reden, und ich hoffe, dass sich ganz viele Gruppen bilden. Aber wie definiert man die Grenzen? Müssen die „persönlichen Absichten“ mit denen der Gruppe unbedingt kollidieren? Was, wenn sich aus der Gruppe eine Verbindung zwischen zwei Beteiligten ergibt, und der eine oder andere in seinem Neben-Gruppen-Leben etwas davon hat, sei es geschäftlich oder privat – verzichtet man dann, und ist das dann in jedem Fall zugunsten der Gruppe…? Wenn sich jemand einbringen will, der zur Dominanz neigt und das gar nicht merkt, das dann, darauf angesprochen, dementsprechend auch gar nicht abstellen kann… wie geht man damit um?

Diese Gruppen – ich bin sicher – werden mit den gleichen menschlichen Befindlichkeiten zu kämpfen haben wie jede andere Gruppierung, jeder andere Verein. Und würden es mehr und mehr, wüchse auch der Dachverband und damit die Bürokratie, was wiederum wachsende Intransparenz zur Folge hätte…

… und was, wenn die Idee so groß würde wie – sagen wir – eine der Weltreligionen…?

Idee… oder Ideologie?

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Durch Offenheit und Durchlässigkeit wachsen Empathie und Vernunft eher als durch Starrheit und Druck, und gelebte Co-Kreativität ist gleich Gewaltverzicht gleich Frieden.

Kann, darf man mehr tun, als mit dem Einsatz seines eigenen Lebens dafür zu werben…?

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Links und Begriffserklärungen:

 

Momente gelingender Beziehungen. Gerald Hüther im Gespräch mit Jeannine Mik (YouTube-Video)

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Link zu „Würdekompass/Gruppen“

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Trailer zum Film „alphabet“

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Homepage von Jeannine Mik „miniandme“

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Wikipedia zum Begriff „Idee“:

„ […] Im heutigen allgemeinen, nichtphilosophischen Sprachgebrauch bezeichnet ‚Idee‘ einen Gedanken, nach dem man handeln kann, eine Vorstellung oder Meinung. Oft handelt es sich um einen Einfall, einen neuen, originellen, manchmal geistreichen oder witzigen Gedanken, den man in die Tat umsetzen kann. In diesem Sinne kann das Wort die Bedeutung von ‚Plan‘ und ‚Absicht‘ erhalten. Als Idee bezeichnet man auch den gedanklichen Entwurf zu einer Erfindung, einem Kunstwerk oder einer literarischen Schöpfung; in diesem Sinne sprach schon Goethe von seinen Ideen. Manchmal ist ein Prinzip gemeint, ein Leitbild oder ein Grundgedanke, der das Denken und Handeln einer Person bestimmt, beispielsweise ‚die Idee der Freiheit‘ oder ‚die europäische Idee‘. In der Musik kommt für ein Kernthema oder Leitmotiv eines mehrteiligen Werks die Bezeichnung ‚Idee‘ vor.“

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Wikipedia zum philosophischen Begriff „Ideal“:

„‘Ideal‘ (von altgriechisch idéa, deutsch ‚Gestalt‘, ‚Urbild‘) ist ein Begriff der philosophischen Ästhetik, Ethik und Wissenschaftstheorie: Es ist der Inbegriff für ein Vollkommenheitsmuster.

Für Immanuel Kant und Friedrich Schiller ist ein Ideal eine individuelle Idee. Beide verwenden den Ausdruck im Sinn der Ästhetik und praktischen ethischen Vernunft (Kants ‚Kritik der Urteilskraft‘ sowie ‚Kritik der praktischen Vernunft‘).

Georg Wilhelm Friedrich Hegel engt den Begriff Ideal auf die Kunst ein: Ihre Aufgabe sei die sinnliche Darstellung der absoluten Idee als Ideal.

Der Philosoph Paul Lorenzen bestimmt das Adjektiv ‚ideal‘ operativ als das Anstreben einer Norm, der man nicht vollständig (sondern nur angenähert) genügen kann. Dabei wird das Substantiv ‚Ideal‘ als Kriterium für das Maß der Annäherung verwendet.“

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Wikipedia zum Begriff „Idealismus“:

„‘Idealismus‘ (abgeleitet von griechisch ἰδέα ‚Idee‘, ‚Urbild‘) bezeichnet in der Philosophie unterschiedliche Strömungen und Einzelpositionen, die ‚hervorheben, dass die Wirklichkeit in radikaler Weise durch Erkenntnis und Denken bestimmt ist‘ bzw. dass Ideen bzw. Ideelles die Fundamente von Wirklichkeit, Wissen und Moral ausmachen. Im engeren Sinn wird als Vertreter eines Idealismus bezeichnet, wer annimmt, dass die physikalische Welt nur als Objekt für das Bewusstsein oder im Bewusstsein existiert oder in sich selbst geistig beschaffen ist.

Im ethischen Idealismus wird davon ausgegangen, dass wir durch vernünftige, verlässliche und verbindliche Überlegungen unser Handeln begründen und regeln können und sollen. Im alltäglichen Sprachgebrauch kann ‚Idealismus‘ z. B. eine altruistische, selbstlose Haltung bezeichnen.“

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Wikipedia zum Begriff „Ideologie“:

„‘Ideologie‘ (französisch idéologie; zu griechisch ἰδέα idéa ‚Idee‘ und λόγος lógos ‚Lehre‘, ‚Wissenschaft‘ – eigentlich ‚Ideenlehre‘) steht im weiteren Sinne bildungssprachlich für Weltanschauung. […]

Der Ideologiebegriff nach Marx, der im westlichen Marxismus eine zentrale Rolle spielt, geht davon aus, dass das herrschende Selbstbild vom objektiv möglichen Selbstbild der jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklungsstufe verschieden ist. Da die materiellen Verhältnisse und Interessen das Denken bestimmen, wird nach Marx die Ideologie der Gesellschaft durch die Interessen dominanter gesellschaftlicher Gruppen, z. B. der Bourgeoisie, beeinflusst, um diese zu rechtfertigen. Durch eine Ideologiekritik kann diesen Interessen entgegengewirkt werden, um im Sinne eines allgemeinen Interesses ein nach dem Stand der Erkenntlichkeit korrektes und vollständiges Bild der Gesellschaft zu entwerfen. Eine wichtige Weiterentwicklung erfährt die Theorie der Ideologie bei Georg Lukács, der sie mit einer Theorie des Totalitarismus verknüpft: Die vollständige Vereinnahmung des Individuums durch gesellschaftlich organisierte Aktivitäten und Strukturen führt dazu, dass sich das Individuum nur innerhalb dieser Strukturen verstehen kann und somit selbst eine passende Ideologie entwickelt.

In der Wissenssoziologie hat sich Ideologie hingegen als Bezeichnung für ausformulierte Leitbilder sozialer Gruppen oder Organisationen durchgesetzt, die zur Begründung und Rechtfertigung ihres Handelns dienen – ihre Ideen, Erkenntnisse, Kategorien und Wertvorstellungen. Sie bilden demnach das notwendige ‚Wir-Gefühl‘, das den inneren Zusammenhalt jeder menschlichen Gemeinschaft gewährleistet. Dieser Ideologie-Begriff wird auch auf die Ideensysteme von politischen Bewegungen, Interessengruppen, Parteien etc. angewandt (→ politische Ideologie).
Im gesellschaftlichen Diskurs werden die beiden Ideologiebegriffe oft nicht hinreichend voneinander unterschieden.“

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Der Vorwurf der Ideologie ist schnell gemacht, weil der Weg von Idee zu Ideologie kein weiter ist. Der Film „Das weiße Band“ von Michael Haneke zeigt das anschaulich, furchtbar anschaulich. Obwohl es hier um diesen guten und wichtigen Film nicht in der Hauptsache geht, hilft die Auseinandersetzung beim Positionieren:

[Entfernter Link: ‚Von-einer-Idee-zu-einer-Ideologie-ist-es-gar-nicht-weit‘ bei welt.de]

Michael Haneke, der Regisseur des Films „Das weiße Band“, im faz.net :

„Ich wollte einen Film machen über die Perversion jedes möglichen Ideals durch seine Verabsolutierung (siehe: Video-Filmkritik: „Das weiße Band“).

Dies ist aber nicht nur ein Film über den Weg, der vom Protestantismus zum Faschismus führt. Das wäre mir zu kurz gegriffen. Mir ging es darum, zu zeigen, wie sich die Kinder aufschwingen zu Richtern derer, die ihnen ihre Ideale gepredigt haben, aber nicht so leben. Warum tun sie das? Weil sie in einer unheimlichen Drucksituation leben – durch die Erziehung. Aber nicht nur dadurch, sondern auch durch den Protestantismus. Und auch durch die gesellschaftlichen Strukturen, und so weiter … Und immer, wenn so ein Druck da ist, dann greifen die Menschen nach einem Strohhalm, der es ihnen ermöglicht, sich da herauszuziehen. Und das ist dann meist irgendeine Idee, ein Ideal, eine Ideologie. Das kann Religion sein, aber auch anderes.

Meistens funktioniert das nicht, aber es führt zu unmenschlichen Handlungen. Und das ist das Modell, das sozusagen hinter dem Film sichtbar werden soll. Das können Sie übertragen auf das Paradebeispiel, das im Film anklingt: den deutschen Faschismus. Aber Sie können es auch bis zum Terrorismus unserer Zeit weiterführen oder bis zum religiösen Fundamentalismus aller Couleur – nicht nur, aber natürlich auch zu den Islamisten von heute. Das gesellschaftliche Umfeld ist natürlich immer ganz anders. Es wird andere Formen von Druck geben, von Lieblosigkeit, von was auch immer. Aber dieses Grundmodell ist überall gleich.“

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